30. April 2021
Nur Mut SPD
Im Feuilleton meiner Zeitung zum 1. Mai finde ich diese „Verlustanzeige“ von Nils Minkmar, ausgegeben für eine Partei, die fehlt. Die SPD, schreibt Minkmar, sollte sich finden. Denn kaum noch jemand erinnere sich, wie sie aussah, wie sie war. Illustriert ist der lesenswerte Essay mit dem Foto eines Willy Brandt mit Kapitänsmütze, eine Dose Coke an den Lippen beim Familienurlaub in Florida. 50 Jahre sind seitdem vergangen. „Mehr Mut zur großen Idee, zugleich mehr laissez faire, exakt das würde dem Land gerade wieder guttun“, heißt es in dem Beitrag. Wichtig scheint mir die Feststellung, dass es ohne die SPD in der Koalition in Berlin zappenduster wäre. Es ist die SPD, die gegen einen Peter Altmeier die deutsche Wirtschaft fairer gestaltet, die mit Karl Lauterbach den fachlich profilierten Epidemiologen einem irrlichtenden Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gegenüberstellt, den Sozialstaat mit einem Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil gegen neoliberale Kräfte verteidigt und Marksteine setzt, mit einer tapferen Svenja Schulz deutlichere Akzente im Umweltschutz setzt als eine Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, mit Heiko Maas die deutsche Außenpolitik respektabel repräsentiert, sich auch in Zeiten der Pandemie für Menschen aus schwachen Verhältnissen einsetzt. Diese SPD hebt sich wohltuend von den Seehofers, Scheuers oder einer Euro-Uschi ab. Was fehlt den Genossen, denen noch immer Hartz IV wie Dreck am Schuh klebt? Richtig: Mehr Mut zur großen Idee. Und ein Olaf Scholz, der den deutschen Wähler damit überzeugt. Der Hanseat hat sich der Not gehorchend vom Diktat der Schwarzen Null befreit und damit an Format gewonnen. Zu finanzpolitischen Zukunft gehört aber auch der Mut, die Reichen und Superreichen zur Kasse zu bitten. US-Präsident Joe Biden macht es vor. Nur wenn Scholz die Umklammerung des regierungstreuen Vizekanzlers abschüttelt und mit einem zugespitzten Programm, die Partei im Rücken, auftritt, haben er und die Sozialdemokraten eine Chance zu gewinnen – und sich zu finden. Reiner Trabold
29. April 2021
Normalität für Geimpfte?
Die Diskussion, ob Geimpfte ihr „normales Leben“ zurückbekommen müssen, mutet für mich skurril an. Lasse ich mich gegen die Seuche impfen, um ein Privileg zu erlangen? Wo doch schon die Impfung ein Privileg ist. Das Privileg, gegen Covid19 geschützt zu sein. Das wurde bisher als etwas ganz Besonderes angesehen. Viele haben sich um die Spritze nach vorn gedrängt. Nicht um ihre grundgesetzlich verbürgten Freiheiten willen, sondern aus Angst, auf der Intensivstation nach Luft zu japsen. Mich überrascht es nicht, dass um ihr Wohlergehen besorgten Egoisten nun auch noch Normalität einklagen und damit jene benachteiligen wollen, die sich bisher geduldig und tapfer in der Schlange der Impfwilligen einreihten. Was ist das für ein Verständnis von Solidarität, aus einer Vorzugsstellung heraus Grundrechte abzuleiten? Normalität kann es erst geben, wenn möglichst viele oder alle geimpft sind. Ich spreche nicht von denen, die Corona für eine Erfindung der Regierung halten, um sie zu knechten. Wenn sie sich der Impfung verweigern, gehen sie das Risiko ein, die Statistik der Opfer zu bereichern. Heißt: Wir werden uns noch etwas gedulden müssen, bis wir die Pandemie weggeimpft haben. Der Blick nach Indien zeigt freilich, dass das Virus noch einige Abarten auf Lager hat und uns noch einiges abverlangen könnte. Reiner Trabold
26. April 2021
Kandidat im Schatten
Auf der Titelseite meiner Zeitung fürs Wochenende steht eine Fotomontage mit den drei Kandidaten, die die Nachfolge von Angela Merkel antreten wollen. Zwei Männer und eine Frau. Klar, dass die Frau in die Mitte gehört. Aber warum Annalena Baerbock im schwarzweiß gestreiften Top deutlich im Vordergrund ist, Armin Laschet (CDU) rechts und Olaf Scholz dort, wo er als SPD-Mann hingehören sollte, nämlich links, der Grünen den Rücken stärken, erschließt sich mir nicht. Scholz (ohne Krawatte) streckt den rechten Arm sogar aus, als preise er Baerbock an. Laschet (mit Schlips) sieht aus, als müsse er dringend austreten. Darunter der Aufmacher über den „Schatten-Kandidaten“ und bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, dem nicht nur die Titelstory gewidmet ist, sondern auch noch ein Interview über eine ganze Zeitungsseite. So lässt sich einer feiern, der eine Schlacht verloren hat, aber klar macht, dass mit ihm noch zu rechnen ist. Prominent deklarieren Söder, dass von Laschet am 26. September ein Ergebnis „deutlich über 30 Prozent“ erwartet. Mehr noch. Söder verrät auch, wie er sich die künftige Regierung und den Wahlkampf vorstellt und orakelt, Laschet werde „eh Kanzler“. Und er kritisiert, dass er gegen den Willen der „Basis“ ausgebootet worden sei. Dass Baerbock keine Regierungserfahrung habe, spreche „eindeutig für uns“, also ihn. Kein Wort dazu, dass die Grünen ihre K-Frage ohne Votum ihrer Basis beantwortet und sich im „Hinterzimmer“ mit der Entscheidung offenbar auch keineswegs leichtgetan haben. Denn Robert Habeck hat danach mit seiner Enttäuschung nicht zurückgehalten. Aber – und das hat von der früheren Fundamentalisten-Truppe kaum einer erwartet – sie haben die Wahl politisch so anständig getroffen, wie es einer Union gut zu Gesicht gestanden hätte. Bis zur Bundestagswahl haben Laschet und Scholz noch fünf Monate Zeit, Profil zu gewinnen. Frau Baerbock hat es offenbar bereits, und ich frage mich, woher. Selbstgewissheit muss kein Vorteil sein. Scholz kämpft mit der Hypothek, Finanzwelt und eine gewaltige Schuldenlast zu repräsentieren. Laschet muss hoffen, dass der bayerische Schatten-Kandidat so entschieden für ihn wahlkämpft, wie er es für sich selbst getan hätte. Ich gebe Söder recht mit seiner Einschätzung, es stehe ein Wahlkampf bevor, „wie wir ihn noch nie erlebt haben“. Erstmals nämlich entscheidet eine Seuche mit, wie die Wahl ausgeht. Beide Vertreter der derzeitigen Regierungskoalition tragen schwer an dem, was in ihrer Verantwortung versaubeutelt wurde. Die Grüne in der Opposition kann von sich behaupten, die Pandemie besser gemanagt zu haben. Damit lässt sich punkten. Reiner Trabold
19. April 2021
Annalena macht‘s
Die Grünen zeigen der Union, wie die K-Frage schnörkellos und doch elegant beantwortet wird und präsentieren Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl. Annalena Baerbock macht’s. Das ist für die Grünen, die sich ja in solchen Fragen in der Vergangenheit heftig streiten konnten, zumindest mal was Neues. Und dass eine Frau für die Nachfolge einer Frau in der Spitzenposition der nächsten Bundesregierung von Robert Habeck präsentiert worden ist, kann durchaus als Zeichen verstanden werden. Viele Beobachter, auch ich, hatten auf ihn gesetzt. Der Mann aus dem Norden ist in Sachen Regierung erfahrener als die Newcomerin im grünen Gewand. Auch er lag in der Beliebtheitsskala. Und wurde es trotzdem nicht. „Wer hätte gedacht, dass die Grünen einmal so sind, wie die Union gerne wäre?“ fragte unlängst Robert Pausch in der ZEIT. Die Grünen, einst zwischen radikalen Fundamentalisten und Realos zerstritten, haben sich zur staatstragenden Kraft entwickelt und verkörpern politische Kultur, und sie entscheiden entre nous ganz ohne die Basis. Genau das macht den Unterschied zur Union. Jetzt werden die Grünen für die Bundestagswahl Farbe bekennen müssen, und wer bezweifelt, dass auch die ohne große Reibungsverluste gelingen wird? Dass es mit der SPD und Linkspartei zu einer grün-rot-roten Koalition, damit zu einem echten Wechsel und voraussichtlich zu einer Kanzlerin Baerbock kommen könnte, ist nicht auszuschließen. Aber die Grünen sind anpassungsfähig. Dass sie auch mit Schwarz können, beweisen sie seit einigen Jahren in Hessen. Dann hieße der Kanzler Söder oder Laschet. Dass die SPD wie Phönix aus der Asche mit Olaf Scholz sich noch aufschwingen könnte, ist derzeit noch unwahrscheinlich. Dabei haben die Sozialdemokraten in der Koalition mit Merkel gezeigt, dass sie Regierung können. An ihnen lag es am wenigsten, dass Berlin im Kampf gegen Corona und die Kanzlerkandidatur einem Tollhaus gleicht. Und trotzdem sitzen die Genossen in Meinungsumfragen wie angeklebt auf ihren 15 Prozent. Reiner Trabold
18. April 2021
Köder Söder
Der Söder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler, machen sich CDU-Bundestagsabgeordnete für den Bayern als Kanzlerkandidaten stark. Fehler: der Ministerpräsident ist Franke, nicht Bayer. Egal. Er versteht sich prächtig darauf, Gegenspieler kalt zu stellen. So wie er‘s jetzt mit dem frischgebackenen CDU-Chef Laschet vorführt. Seehofer, sein Vorgänger als CSU-Vorsitzender, kann ein Lied davon singen. Söder habe seinen Schafspelz abgeworfen, „und der Wolf trat zutage“, schreibt die Frankfurter Sonntagszeitung. Dieses Bild ist mit bereits mehrfach eingefallen, weil es stimmt. Gut, dass es mal einer schreibt. Söder („mein Platz ist in Bayern“) hat Blut geleckt, geht aufs Ganze, und wenn es die Union auseinanderhaut. Den Schwanz einzuziehen, gehört nicht zu seinem Persönlichkeitsprofil. Dabei sind es nur Umfragewerte, auf die sich sein Anspruch bezieht. In der großen Schwesterpartei CDU geht die Angst um, ohne den Wolf aus München bei der Bundestagswahl im September den Kürzeren zu ziehen. Viele Abgeordnete bangen um ihren Sitz im Bundestag. Diese Angst hat Söder geschickt eingesetzt. Nun, den christsozialen Partei- und Regierungschef („alles wird gut“) habe ich als einen in Erinnerung, der einst das Wort „Asyltourismus“ kreierte, nach der verlorenen Landtagswahl sein Herz für die Bienen entdeckte. Er versteht es, sich der jeweiligen Situation anzupassen. Er geriert sich als Macher im Janker für die Führungsposition in Berlin, gesteht aber, das Schönste für ihn sei, von der Bundeshauptstadt nach München zurückzureisen. Es gehört zu Krisenzeiten, dass die Bürger einen starken Mann suchen. Diese Rolle ist Söder, der sich im Fasching auch schon mal als Kini Ludwig II. maskierte, auf den Leib geschneidert. Für mich unerklärlich bleibt, dass die Union trotz des angesichts der Pandemie desaströsen Machtkampfs bei Umfragen in der Wählergunst sogar zulegt – die in der Regierungsarbeit starke SPD aber bei mickrigen 15 Prozent festhängt. Reiner Trabold
16. April 2021
Hütter adé
Das kann kein Zufall sein. Wenige Tage vor dem Spiel der Eintracht gegen Borussia Mönchengladbach wird bekannt, was bisher nur gemunkelt wurde. Trainer Hütter hütet sein Geheimnis - und in der nächsten Saison die Fohlen. Wir erinnern uns: Als amtlich wurde, dass Borussen-Trainer Rose nach Dortmund geht, stürzte seine Mannschaft von der Tabellenspitze ins Mittelmaß. Steht das jetzt auch der Eintracht bevor? Dass der mit seiner Eintracht so erfolgreiche Hütter vor dem Einzug in die Champions League die Diva vom Main verlässt, ist schwer zu begreifen. Genauso unverständlich, dass Sportvorstand Bobic ausgerechnet jetzt nach Berlin, Sportdirektor Hübner in den Ruhestand geht. Totalausverkauf. Und da ist über die Mannschaft noch nicht geredet. Mir fallen einige Spieler ein, die in der Siegesserie Profil gewonnen haben, aber ebenfalls abwandern werden, falls das mit der Königsklasse nichts wird. Wofür unter den gegebenen Umständen einiges spricht. Es ist noch nicht lange her, da versprach Borussen-Chef Eberl im Aktuellen Sportstudio noch, er werde Roses Nachfolger nicht in der Bundesliga einkaufen. Glatt gelogen. Da hatte er Hütter schon rumgequatscht. Dass er nicht den einen oder anderen Frankfurter mit auf den Bökelberg nehmen wird, glaubt ihm erst recht keiner mehr. Nur wenn der Adler gegen Gladbach die Krallen ausfährt und gewinnt, wird der Rose-Effekt zu vermeiden sein. In den USA nennen sie einen Präsidenten, der nicht mehr antritt, aber noch im Amt ist, „lame duck“. Eine lahme Ente hätte der so beherzt aufspielenden Mannschaft erspart werden müssen. Hütter, der bislang seinen Wechsel mit beredtem Schweigen dementierte, sollte seine Koffer packen, sich möglichst schon morgen an den Niederrhein verabschieden. Schleich di. Reiner Trabold
9. April 2021
Putins Dosen
Jetzt also doch. Am besten wär’s, Sputnik über die Pipeline Nordstream direkt zu injizieren. Nachdem sogar der Bayer Söder auf den russischen Impfstoff setzt und – in der Not - auch andere mit dem Vakzin des Erzfeindes liebäugeln, scheinen die Schleusen geöffnet. Wurde ja auch Zeit. Ich frage mich: Warum wurde der Sputnik V nicht von Anfang an von der EMA geprüft? Das Zeug könnte längst gespritzt werden. Auch ich, der mehrfach vorerkrankte Vulnerable, hätte meine Dosis. Naja, man kann nicht alles haben. Dafür herrscht jetzt von Nord bis Süd, von Ost bis West eine so konfuse Diskussion um das weitere Vorgehen, dass es dem Beobachter schwindlig wird. Die Republik verstrickt sich in sich selbst. Kein Talk mehr ohne inzwischen bestens bekannte Virologen. Sie dringen auf mehr Entschlossenheit. Die Politik würde gern lockern, ist aber überfordert, die notwendigen Bedingungen zu schaffen: Die Impf-Bürokraten sind fast so hinderlich wie die Tatsache, dass es an Stoff fehlt. Schüler sollen wieder in den Unterricht, doch es mangelt an Tests. Die sparen sich noch immer viele Unternehmen und gehen ein hohes Infektionsrisiko für ihre Angestellten ein. Wie schlecht der Kampf gegen die Seuche organisiert ist, zeigt das Beispiel Dieburg. Was haben sich die Verantwortlichen in Wiesbaden eigentlich dabei gedacht, als sie die Kreisstadt zur Modellstadt erklärten, um das Testen zu testen? Läden und Kneipen sollten all denen offenstehen, die sich als negativ ausweisen konnten. Die Geschäftswelt war bereit. Viel zu spät wurde festgestellt, dass das zuständige Gesundheitsamt gar nicht in der Lage ist, den gewagten Schritt mitzugehen. Blamabel. So reiht sich eine Panne an die andere. Und während der Streit um Shut- oder Lockdown im Vorfeld der Wahlen eskaliert, hoffen wir auf Putins Dosen. Nastrovje wünscht Reiner Trabold